Stössel-Lauten
Andreas Michel
Seit dem 19. Jahrhundert treten in den deutschsprachigen Ländern neben den traditionellen Volksmusikinstrumentengebrauch zahlreiche Versuche, qualitativ neue "Volksinstrumente" zu etablieren. Bewusst wird dabei an solche Klangwerkzeuge gedacht, die generell zur Nutzung für viele oder gar alle Mitglieder einer Gemeinschaft dienen sollen. Durch eine Vielzahl an Neuerungen und Modifikationen im Instrumentenbau werden Instrumente angestrebt, die auf Grund leichter und schneller Erlernbarkeit - quasi unter Umgehung traditioneller oder "klassischer" Ausbildung - von jedermann gespielt werden können. Die Konstruktion und Handhabung des Instruments soll dabei insbesondere das funktionsharmonische Spiel erleichtern, was zu entsprechenden Entwicklungen zuerst bei Balginstrumenten wie dem Accordion, dann bei den sogenannten Akkordzithern und Reformgitarren führte. Sowohl bei der Reformgitarre als auch bei der Akkordzither wird durch die Konstruktion und Stimmung des Instruments eine funktionsharmonische Melodiebegleitung mit einfachsten Mitteln realisierbar. Bei der Akkordzither wird das Chordophon in Anlehnung an das Prinzip des Accordions mit Akkordtasten versehen; bei der Reformgitarre wird das Spielen von Akkorden durch einen Exzenterhebel, der eine Barréefunktion darstellt, ermöglicht. Als billige Importe aus den USA erlangten Akkordzithern nach 1900 in Deutschland große Verbreitung.
In der Reaktion auf diese Entwicklungen müssen die Instrumente des Kölner Geigenbauers Georg Stössel (1867-1943) gesehen werden. Stössel erfand 1914 ein Instrument, das in sich Merkmale von Zither- und Halslauteninstrument vereint:
Georg Stössel wurde am 1.5.1867 in Würzburg geboren. Mit 12 Jahren verließ er die Schule, um eine Schreinerlehre aufzunehmen, die er 1882 mit dem Gesellenbrief abschloss. Anschließend begann er bei dem Geigen-, Zithern- und Akkordeonbauer Wittstadt in Würzburg eine Lehre als Instrumentenbauer, der eine längere Wanderschaft folgte. Stössel arbeitete in Wien bei den Geigenbauern David Bittner, Ignaz Bucher und Josef Hamberger. Weitere Reisen führten ihn über Ungarn und den Balkan bis nach Konstantinopel. 1889 begab er sich nach Italien, wo er sich in Neapel, Rom und Cremona im Geigenbau vervollkommnete. Nach dem dreijährigen Aufenthalt in Italien folgten die Stationen Zürich, wo er bei dem Geigenbauer Siebenhühner arbeitete, und Mittelwald. 1893 kehrte er nach Würzburg zurück, wo er in der Werkstatt von Karl Adam Hörlein sogenannte "Ritterbratschen" fertigte. Im selben Jahr machte er sich in Würzburg selbständig. Er entwickelte eine "Legathozither", für die er ein Patent anmeldete. 1900 zog er nach Köln, wo er am Berlich 31 eine Geigenbauwerkstatt eröffnete. Er erlangte als "Meister in der Imitation und in der Wiederherstellung alter Geigen" große Anerkennung (Lütgendorff 1922, II, 489). 1910 gründete Stössel als Reaktion auf die Überschwemmung des deutschen Marktes mit billigen amerikanischen Accord-Zithern den "Verband Deutscher Instrumentenfabrikanten und -Händler".
Georg Stössel kam bei der Bombardierung Kölns am 26.6.1943 ums Leben.
- ein flaches, zitherartiges Korpus mit lautenartigem Umriss, Zarge und gewölbtem Boden, der aus Spänen zusammengesetzt ist
- ein kurzer und breiter Hals
- ein Griffbrett mit drei, maximal fünf Bünden
- die Saiten werden über Stirnkante und Obersattel gegriffen, das heißt, die Greiffinger liegen parallel zum Saitenverlauf
Die Ergologie stellt folglich einen Kompromiss zwischen einfachen Chordophonen vom Zithertyp und Halschordophonen dar. Der Hals wurde minimiert, ebenso die Anzahl der Bünde. Um das Greifen über die Stirnkante zu ermöglichen, mussten die Saiten und -befestigungen im Hals versenkt und die Stimmwirbel auf das Korpus gesetzt werden. Obwohl man die siebensaitige Stössel-Laute als Grundform ansehen kann, experimentierte der Erfinder mit einer Vielzahl von Formen und Modellen.

Patentschrift DRP Nr. 296436, Kl. 51c, Gr. 14 vom 31.8.1915
ZfI XXXVII (1917), S. 327 "Der Zweck der Erfindung ist vorzugsweise der, in schwierigen Greifarten der gebräuchlichen Saiteninstrumente zu Begleitzwecken zu vereinfachen und zu vervollkommnen unter Berücksichtigung rascherer Erlernbarkeit und größerer Bequemlichkeit.
Das neue Instrument zeichnet sich dadurch aus, daß eine Greifkante quer zu den Saiten angeordnet ist. Die Stimmwirbel sind an das der Greifkante gegenüberliegende Saitenende verlegt. Für das neue Greifen kommen nur 1 bis 3 Bünde in Betracht, die bei geeigneter Stimmung von nur 6 bis 7 Saiten zur Bildung aller Tonarten und ihrer Nebenakkorde ausreichen. Die Greifkante eignet sich für alle Formen und Bauarten und lässt neue Formen und Bauarten zu."
Zeitschrift für Instrumentenbau XXXVII (1917), S. 327
Modelle und Varianten der Stössel-Laute
Formen Mensur Korpuslänge Halslänge
Melodiesaiten Baßsaiten Melodiesaiten Baßsaiten
Siebensaitige Stössel-Laute (= Grundform) 330-375   280-400 75-180  
Neunsaitige Stössel-Laute 330-340 385   70  
Doppelchörige Stössel-Laute (2 x 7 Saiten) 300-345 260-360   80-100  
Stössel-Baßlaute (G-Laute, 7 + 13 Saiten) 300-345 450-490 500-510    
Stössel-Kontrabaßlaute (C-Laute, 9 + 12 Saiten) 290-390 400-620 350-490 70-410 100-140
Stössel-Klangbrett (fünfsaitig) 270-280   320-365    
Bereits aus der Patentschrift geht hervor, daß der Erfinder für sein "Saiteninstrument, gekennzeichnet durch die Anordnung einer Greifkante quer zu den Saiten" (ebd.) mehrere Realisierungen im Auge hatte. In knapp drei Jahrzehnten baute er einige Hundert verschiedene Ausführungen seines Lauteninstruments, von denen er die Prototypen in seiner Werkstatt sammelte.
Instrumentensammlung Georg Stössel, Köln  Instrumentensammlung Georg Stössel, Köln: Von Stössel gebaute Instrumente in seiner Werkstatt in Köln. Aufnahme aus den zwanziger Jahren. Die mehrere Hundert Instrumente umfassende Sammlung verbrannte 1943 beim Bombenangriff auf Köln. Foto: Privatbesitz Erika Liesmann
Neben den zahlreichen Varianten in bezug auf die Saitenanzahl traten Versuche mit ein- und doppelchörigen Saitenbezügen. Da viele der ursprünglich doppelchörigen Instrumenten später einen einchörigen Bezug erhielten, scheint sich letztgenanntes Prinzip durchgesetzt zu haben.
Der heute gebräuchliche Instrumentenname leitet sich von seinem Erfinder Georg Stössel her. In den ersten Lehrwerken für das Instrument, so zum Beispiel in der um 1920 erschienenen Schule von H. J. Bachem, wird die Bezeichnung Stössel's Accord-Mandoline gebraucht. Die Schulen von Joseph Drechsel verkürzen diesen Namen auf Stössel-Mandoline. In Stössels eigenen Prospekten taucht die Bezeichnung Stössel's Lauten-Mandoline auf. Unter den Namen Mandolaute und Deutsche Laute propagierten später die Dusyma-Werkstätten in Stuttgart-Ostheim das Instrument (Dusyma = Abkürzung für Durchmesser-Symmetrie-Maßstäbe; eine Erfindung des Ingenieurs Kurt Schiffler; vgl. Schiffler 1985). Der Leipziger Instrumentenmacher Richard Neutschmann nannte seine Modelle Psalterion.
Über die Motive zur Entwicklung eines neuen Zupfinstruments äußerte sich der Erfinder in verschiedenen Artikeln und Werbeprospekten (vgl. z.B. Georg Stössel 1915 und 1926). Er nennt darin im wesentlichen sechs Aspekte:
1. "Harmonische Vollwertigkeit", d.h. die Nutzung verschiedener Tonarten bringt nicht verschiedene Schwierigkeitsgrade mit sich; ein Problem, das insbesondere die Gitarre mit den B-Tonarten hat, soll gelöst werden;
2. "natürliche Greifart", d.h. die Spielhaltung und Grifftechnik folgt physiologischer Logik; die linke Hand greift über den Obersattel um die "unnatürliche" Torsion des Handgelenks zu vermeiden;
3. leichter Zugang für den Anfänger, d.h. Minimierung der Phase zwischen Übungsbeginn und den ersten erkennbaren musikalischen Ergebnissen (Dies scheint das generelle Kriterium bei den professionellen Instrumentenmachern im 19. und 20. Jahrhundert zu sein, wenn sie zwischen Volks- und Kunstmusikinstrument unterscheiden);
4. Verwendungsmöglichkeit als Ensembleinstrument, um den Zugang zu musikalischen Vereinigungen aller Art zu ermöglichen;
5. Vereinfachung der Grifftechnik durch eine Optimierung des Verhältnisses von Saitenzahl : Anzahl der Bünde : Stimmung. (Der Tonumfang eines Bundinstruments leitet sich aus dem Verhältnis dieser drei Faktoren zueinander her.)
6. Ein niedriger Verkaufspreis, der durch eine schlichte Bauweise und die Verwendung preiswerter Materialien angestrebt wurde, sollte den Zugang vor allem der unteren sozialen Schichten zum Instrument ermöglichen.
Die Grundidee der musikalischen Möglichkeiten liegt bei der Stimmung offen zu tage: Als Basis dient eine Quintstimmung wie bei der Violine. Eine zweite Quintstimmung wird, ausgehend von der kleinen Terz des tiefsten Ton, eingeschoben. Jeweils drei benachbarte Saiten bilden einen Moll- oder Durdreiklang, die als Basis für gegriffene Akkorde dienen.
Stimmungen der Stössel-Lauten
Siebensaitige Stössel-Laute a' f' d' b g          
Fünfsaitige Stössel-Laute   a' f' d' b            
Sechssaitige Stössel-Laute   a' f' d' b g          
Achtsaitige Stössel-Laute a' f' d' b g es        
Neunsaitige Stossel-Laute a' f' d' b g es c      
Stössel-Baßlaute [12 Basssiten] a' f' d' b g As es B f c G d A e H fis cis
Stössel-Baßlaute [13 Basssaiten] a' f' d' b g des As es B f c G d A e H fis cis
Doppelchörige Stössel-Laute e²e² c²c² a'a' f²f' d²d' b'b g'g  
Stimmungen der zwölf-  dreizehnsaitigen Stössel-Baßlauten (Notation: Albrecht Zummach)
Zum Zwecke der Spielerleichterung ließ sich 1931 Georg Stössel-Junior schräg gestellte Bünde und einen schräg gestellten Steg (analog zur Pandora), wie sie auch Richard Neutschmann baute, patentieren.
Patent DRP Nr. 541813 vom 24.12.1931. Patentanspruch: "Saiteninstrument mit von der Stirnseite des Griffbrettes aus zu greifenden Saiten, dadurch gekennzeichnet, daß bei Verwendung eines schräg zur Saitenrichtung laufenden Steges die Griffbundzwischenräume in an sich bekannter Weise in Richtung der höher gestimmten Saiten sich verjüngend angeordnet sind."
Für die Spielweise der Stössel-Laute existierten mehrere Varianten. In der "Grundschule für die Stössel-Laute" von Joseph Drechsler heißt es: "Den besten Anschlag erzielt man mit der weichen Daumenkuppe. Man kann aber auch Zitherringe und, bei den doppelsaitig bespannten Lauten, die bekannten Mandolinenblättchen verwenden" (Drechsler 1928, S. VII). Am häufigsten wurde - wie von Stössel selbst intendiert - der Anschlag mit dem Daumen praktiziert, bei den Baßlauten erfolgte der Anschlag der Baßsaiten mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand. Wahrscheinlich unter Einfluss der Gitarrentechnik wurde diese Spielweise dann auch auf den siebensaitigen Instrumenten praktiziert, wobei es allerdings zum Konflikt mit der Saitenanordnung kam, der zu verschiedenen Experimenten führte. Stössel und Schiffler realisierten das Prinzip der Zither (Baßsaiten links, Anschlag mit Zeigefinger, Mittelfinger etc.); Neutschmann nahm das Prinzip der theorbierten Halschordophone zum Vorbild (Baßsaiten rechts, Anschlag mit Daumen). Allerdings existieren auch von Stössel Instrumente mit dieser Saitenanordnung; so baute er auf Anregung des schlesischen Gitarre- und Stössel-Lautenlehrers Arno Gröschke ein Instrument mit Baßsaiten auf der Daumenseite.
Hans Georg Stössel (jun.) auf einer Instrumentenausstellung in Frankfurt (Main), um 1928 Hans Georg Stössel (jun.) auf einer Instrumentenausstellung in Frankfurt (Main), um 1928
Für eine größere und überregionale Verbreitung der Stössel-Lauten sorgte zunächst die am 23.6.1923 in Stuttgart gegründete Stösselinstrumentenbau AG, in der Stössel technischer Direktor war. Nach dem Konkurs der Gesellschaft setzte ihr Vertriebsleiter, der Ingenieur Kurt Schiffler in einer eigenen Firma, den Dusyma-Werkstätten in Stuttgart-Ostheim, die Produktion fort. Dort entstanden 1926 drei modifizierte Formen der Stössel-Laute ("Modell Schiffler"), die nun auf der Basis industrieller Fertigung in größeren Stückzahlen gebaut und unter anderem durch den Kaufhauskonzern Hertie vertrieben wurden (Schiffler 1985, S. 12):
"Kleine Laute" mit trapezförmigem Korpus und 7 Spielsaiten
"Große Laute" mit mandelförmigem Korpusquerschnitt, Gesamtlänge ca. 45 cm
"Baßlaute", Gesamtlänge ca. 56 cm, 7 Spiel-, 13 Begleitsaiten
Der Klang der Stössel-Laute ähnelt am ehesten dem der Lautengitarre, ist aber nicht deutlich genug von diesem abgesetzt; er stellt eine schwer zu plazierende Klangfarbe in bezug auf die anderen Chordophone dar. Die Instrumentenbauer selbst konnten sich nicht so recht definieren.
Am Beispiel der Stössel-Laute zeigt sich, wie sich das Verständnis des Begriffes "Volksmusikinstrument" aus der Sicht eines Instrumentenbauers im 20. Jahrhundert darstellt. Neben objektiven Kriterien für die Bewertung als "Volksmusikinstrument" durch die Ethnoorganologie geht es hier also um die intrakulturelle Sichtweise, die subjektiven Vorstellungen des Instrumentenbauers.
Georg Stössel verband von vornherein mit seiner Neuentwicklung die Vorstellung von der Schaffung eines "Volksinstruments". In einem Prospekt aus der Mitte des zweiten Jahrzehnts finden sich eine Reihe von Aussagen über seine Ideen. Zwar ist der Werbecharakter seines Textes nicht zu übersehen, dennoch ist die Selbstdarstellung aufschlußreich. So heißt es: "Der deutschen Volksmusik und Gesangspflege ist endlich ein ideales Hilfsmittel geworden, nach welchem seit Jahrhunderten gesucht wurde und das den weitern Vorzug besitzt: rein deutsche Erfindung zu sein, vielleicht erkoren zum Nationalinstrument." 1915 schrieb Stössel in einem Beitrag für die Zeitschrift "Das Musikinstrument", daß er mit seiner Erfindung ein "Volksinstrument" schaffen möchte, "das an Gediegenheit in jeder Hinsicht nichts zu wünschen übrig läßt, das unser Deutsches Volkslied hebt und den Familiensinn stärken möge". Zum Zeitpunkt der Entwicklung darf man den sicher alle Bereiche der Gesellschaft durchdringenden Nationalismus als ideologische Flankierung kultureller Ideen nicht unbeachtet lassen. Zudem gehen hier instrumentenbauliche Bestrebungen mit einer neuen Wiederbelebung des Volksliedes einher, wie sie Bewegungen wie der "Zupfgeigenhansl", die "Wandervogelbewegung" oder die Jugendmusikbewegungen um Walter Hensel oder Fritz Jöde verkörperten.
Die Stössel-Laute erlangte in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine beachtliche Verbreitung. Sie wurde in den Kölner Volksschulen für den Musikunterricht eingeführt. Von zahlreichen Vereinen (Männerchören, Wandergruppen, Kindergärtnerinnen, der Franziskaner-Jugend in Köln, Schulorchestern etc.) wurde sie aufgegriffen. Die Verbreitung war schließlich überregional und reichte bis nach Österreich, die Schweiz, England und die Niederlande. Vom Nordwestdeutschen Rundfunk wurden Unterrichtskurse für Stössel-Laute gesendet (Lieser 1985, 15f.).
Stössel-Lauten-Klasse in Steyr/Österreich, Aufnahme um 1930 Stössel-Lauten-Klasse in Steyr/Österreich, Aufnahme um 1930. Das Foto wurde in der Dezemberausgabe 1992 des Amtsblattes der Stadt Steyr veröffentlicht, woraufhin sich noch sechs der abgebildeten Spielerinnen meldeten, eine davon besitzt noch heute ihr Instrument und die Noten. (Nach Mitteilung von Rudolf Pietsch, Wien).
Anonyme Stössel-Lauten-Spieler aus Heimgarten bei Bülach (Schweiz) Anonyme Stössel-Lauten-Spieler aus Heimgarten bei Bülach (Schweiz)
Um der Stössel-Laute eine weite Verbreitung zu sichern, begannen einige Musikpädagogen und Liebhaber mit der Abfassung von Lehrwerken, Transkriptionen, Etüden etc. für das Instrument. Zum Teil in gewöhnlicher Notenschrift, zum Teil in einer speziell entwickelten Tabulaturschrift.
Titelblatt der Grundschule für Stössel-Baßlaute, Köln 1929 Titelblatt der Grundschule für Stössel-Baßlaute, Köln 1929
Das Notenbeispiel 1 zeigt diese Griffschrift und die entsprechende Transkription. Der Satz weist mit der latenten Polyphonie die spezifische Merkmale aller Sätze für Zupfinstrumente auf. Hinzu kommt als Beschränkung noch, daß wie bei der Waldzither, nur unmittelbar benachbarte Saiten gezupft oder angeschlagen werden können.
Joseph Drechsler: Schule für die Stössel-Mandoline, 2. Auflage, Köln 1922, S. VII Joseph Drechsler: Schule für die Stössel-Mandoline, 2. Auflage, Köln 1922, S. VII
Mit der Verwendung der Notation als didaktisches Mittel wird eine entscheidende Frage berührt: Das angestrebte Ziel als Volksinstrument kann nur auf der Basis einer organisierten Pädagogik verwirklicht werden. Ein Wirkungsmechanismus also, der auf Modelle aus der Praxis anderer Instrumente zurückgreift. Der "Kölner Stadtanzeiger" Nr. 363 vom 5.8.1943 schrieb anläßlich des Todes von Georg Stössel: "In den alpenländischen Gauen wurde die Verwendung der Stössel-Laute durch behördliche Anordnung im Gesangsunterricht an allgemeinen Volksschulen und an Hauptschulen bevorzugt." Man ging zum Stössel-Lauten-Unterricht wie zur Klavier- oder Geigenstunde. Das Ensemblespiel folgte analog der Form, wie sie bei Blas- oder Mandolinenorchestern praktiziert wurde. Damit begab sich das Instrument in direkte Konkurrenz zu anderen Zupfinstrumenten wie Zither, Gitarre und Mandoline, an deren sozialer und musikantischer Funktion sie sich folglich auch messen lassen mußte.
Trotz der zweifellos vorhandenen Individualität, die dem Instrument zugesprochen werden kann, verhinderten mehrere Gründe eine dauerhafte Verankerung im Musikleben. In ihrer Gesamtheit führten sie bereits nach einer relativ kurzen Blütephase zu einer Ausgliederung des Instruments aus der Volksmusikpraxis:
a) Der Klang der Stössel-Lauten konnte sich nicht markant genug vom Klang anderer Chordophone absetzen;
b) die Möglichkeiten zur Klangmodulation durch die Greifhand, wie sie beispielsweise bei der Gitarre existieren (Glissando, Vibrato, Abzugs- und Aufschlagsbindung, Triller, Flageolett, perkussive Effekte, Dämpfung u.a.) sind durch die Greiftechnik über den Obersattel sehr eingeschränkt;
c) die Stössel-Laute besitzt nur eine geringe Potenz zur Virtuosität, zu solistischer Funktion im Sinne eines Virtuoseninstruments;
d) es gab keine Entwicklungsmöglichkeiten für ein eigenständiges Repertoire, die Transkription bleibt das wichtigste Mittel zur Repertoirebildung;
e) es erfolgte keine klar definierte Familienbildung;
f) die Experimentierphase war zu lang, in der Formierungsphase, die bekanntlich jedes Musikinstrument durchläuft, traten zu viele "Kinderkrankheiten" auf.
Anzumerken ist außerdem, daß in der Mitte der dreißiger Jahre aus nicht ganz aufzuhellenden Gründen nach einem Erlaß der Reichsjugendführung in HJ und BDM keine Stössel-Lauten zu verwenden seien. Im entsprechenden Gebietsbefehl 12/37 der Kulturabteilung Köln vom 15. Oktober 1937 heißt es : "Von der Firma Stössel in Köln ist verschiedentlich an Einheiten mit dem Versuch herangetreten, in diesen die sogenannte Stössel-Laute als besonders geeignetes Instrument für die Musikarbeit einzuführen. Ich weise darauf hin, daß die Stössel-Laute sowohl als Instrument zum Musizieren in der Gemeinschaft, wie auch als Begleitinstrument denkbar ungeeignet ist, so daß die Einführung desselben innerhalb unserer Einheiten mit allem Nachdruck zu unterbinden ist."
Die vorhandenen didaktischen Züge, die physiologisch bedachte Struktur und Spielhaltung sowie die innere Logik der Besaitung reichten nicht aus, um dem Instrument einen dauernden Bestand zu sichern und es im Musikleben zu verankern. Der erste Hauptgrund für das Scheitern der Stössel-Laute liegt damit im Fehlen einer ausreichend bestimmten Funktionalität - diese wird von anderen Chordophonen erfüllt; aus evolutionstheoretischer Sicht würde man sagen: Es fand sich für die Stössel-Laute keine musikkulturelle Nische, in der das Instrument seine Bestimmung finden konnte bzw. alle möglichen Nischen sind bereits von anderen, schon etablierten Instrumenten mit längerer Tradition besetzt.
Reproduktion aus: Kamphausen, E.: Die Stössel-Laute und ihre Bedeutung für das deutsche Lied und Volkstum. In: Mitteilungen des Vereins preußischer Oberschullehrer und Oberschullehrerinnen E.V., 2. Jg., Nr. 2, Köln 1927 Reproduktion aus: Kamphausen, E.: Die Stössel-Laute und ihre Bedeutung für das deutsche Lied und Volkstum. In: Mitteilungen des Vereins preußischer Oberschullehrer und Oberschullehrerinnen E.V., 2. Jg., Nr. 2, Köln 1927
Ein weiterer wichtiger Grund für das Scheitern liegt im Bestreben, die musikalische Beschränkung eines Instrumententyps aufzuheben. Das birgt gleichzeitig auch die Gefahr, die Individualität des Instruments einzuschränken. Stössels Bemühen, durch die Konstruktion bestimmte spieltechnische Probleme von Bundinstrumenten zu lösen, schuf neue, anders gelagerte Einschränkungen. Damit würde zwar dem Charakter eines Volksmusikinstruments nicht widersprochen, wie die Geschichte zeigt, aber die Beschränkung darf nicht zuvörderst als Mangel sondern muß als individuelle Potenz empfunden werden. In etwas metaphysisch gefärbter Sprache äußerte Fritz Dietrich zu diesem Problem: "All jene von oben herab geächteten Instrumente, wie der Dudelsack, die Mandoline, die Zither, oder in früheren Jahrhunderten die Radleier und das Scheitholt - sie sind umso musikalischer, je beschränkter sie nach moderner Auffassung sind, d.h. je fester ihr Klangbild umrissen und damit an eine ganz bestimmte Art von Musik gebunden ist. Diese ursprünglicheren Tonwerkzeuge sind nicht Ergebnisse einer Entwicklung, nicht Erzeugnisse eines Fortschritts, sondern die Wurzeln, aus denen eine Geschichte des Klanges überhaupt erst hervorgehen kann" (Dietrich 1937, S. 200).
Publiziert in: Studia instrumentorum musicae popularis XI, Stockholm 1995, S. 78-90
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