Italienische Zistern der Spätrenaissance
Andreas Michel
Zahlreiche der  im 16. Jahrhundert südlich der Alpen gebauten Zistern stellen einen archaischen, zum Teil noch in spätmittelalterlichen Bautraditionen stehenden Typ des Instruments dar. Auch die beiden prinzipiell baugleichen Zistern Inv.-Nr. 612 und 613 gehören einem in Norditalien (Brescia, Padua) gebauten Modell an, von dem zahlreiche Exemplare überliefert wurden.
Zister, Italien, 16. Jahrhundert; Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 59 Zister, Giovanni Salvatori, 16. Jahrhundert; Paris, Musée de la Musique, E. 543 Zister, Italien, 16. Jahrhundert; Quelle: Katalog Galpin Society 1986 Norditalienische Zister, um 1590 Norditalienische Zister, um 1590  
8 9 11 Inv.-Nr. 612 Inv.-Nr. 613  
Abb.
Provenienz Aufbewahrungsort Quellen / Literatur Besaitung Fret Pattern
1 Canpi,
Brescia
London, Royal College of Music, Donaldson Collection, Inv.-Nr. 48 An Exhibition of European Musical Instruments. Edinburgh International Festival, Edinburgh 1968, S. 82 (Nr. 618) und Taf. XXXV/1, (dort auf ca. 1570 datiert) 6 x 2 teildiatonisch
2 Augustinus Citaroedas Urbinus, 1582 London, Victoria & Albert Museum Baines 1968, S. 43f., Fig. 64 10 Saiten teildiatonisch
3 Plebanus, Podylastre (?), 1536 Paris, Musée de la Musique, Inv.-Nr. E. 1131 Baines 1966, Fig. 227 10 Saiten teildiatonisch
4 Unsign. Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 58 Schlosser 1920, S. 61 und Taf. XIII (hier alte Inv.-Nr. C. 63) 14 Saiten teildiatonisch
5 Unsign. Brüssel, Conservatoire, Nr. 1522   6 Saiten (Chöre?) teildiatonisch
6 Unsign. Bologna, Museo Civico Medievale J. H. van der Meer: Strumenti musicali europei del Museo Civico Medievale di Bologna, Bologna 1993, S. 115 und Abb. 112 6 x 2 teildiatonisch
7 Unsign. Berlin, Nr. 2290 (Kriegsverlust) Sachs 1922, Sp. 153, Taf. 17 6 x 2 chromatisch
8 Unsign. Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 59 Schlosser 1920, S. 61 und Taf. XIII (hier alte Inv.-Nr. C. 64); Baines 1966, Fig. 231 6 x 2 chromatisch
9 Giovanni Salvatori (unsign.) Paris, Musée de la Musique, Inv.-Nr. E. 543 Baines 1966, Fig. 224-226; R. Clemencic: Old Musical Instruments. 1968, Fig. 70 6 x 2 chromatisch
10 Unsign. London, Donaldson Collection A. J. Hipkins: Musical Instruments. 1921, Fig. 14 6 x 2 chromatisch
11 Unsign. Privatbesitz Made for Music. An Exhibition to mark the 40th Anniversary of the Galpin Society for the study of Musical Instruments at Sotheby's. Catalogue, London 1986, Nr. 36 6 x 2 chromatisch
12 Unsign. Rom, Museo degli strumenti musicali, Inv.-Nr. 708 L. Cervelli: La galleria armonica, Catalogo del Museo degli strumenti musicali di Roma, Roma 1994, S. 251 und 26   chromatisch
Alle diese Instrumente weisen gemeinsame spezifische Merkmale auf:
- einen tropfenförmigen Deckenumriß mit geraden Oberflanken ("Paduan outline")
- eine nicht durchbohrte Wirbelplatte mit vorder- bzw. schrägständigen Wirbeln in der Bautradition der mittelalterlichen "Citole"
- Korpus (Boden und Wandung) sowie Halstrakt sind aus einem Stück ausgestochen, wobei die Korpuswände sich sehr stark zum Boden hin verjüngen
- für die untere Saitenbefestigung dient ein ebenfalls zum Korpus gehörender "Kamm", an dessen Zähne die Saiten gebunden werden
- die jeweils 18 Metallbünde weisen eine individuelle, teilweise durch fehlende Halbtonschritte gekennzeichnete Anordnung auf
- zur Signatur wurden bei einigen Instrumenten (Wien Inv.-Nr. 58 und 59; Leipzig Inv.-Nr. 612) runde Brandstempel in Medaillenform verwendet, die auf dem Boden unmittelbar unter dem Halsansatz - heute weitgehend unleserlich - eingebracht wurden
- auf der Rückseite des Wirbelkastens befindet sich ein in einen Haken auslaufender kammartiger Wulst (der Haken diente, wie zahlreiche Bildquellen belegen, zum Aufhängen des Instruments)
Saitenhalter der Zister Inv.-Nr. 612 Saitenhalter der Zister Inv.-Nr. 612
Mehr als die Hälfte der bekannten, in der Regel sechschörigen Instrumente besitzen eine teildiatonische Bundanordnung. Chromatische Bundanordnungen treten in den italienischen Quellen nicht vor 1570 auf (Grijp 1981, S. 64). Die Gestaltung der Bünde bei den nicht chromatischen Instrumenten weist einige Unterschiede auf, folgte also nicht einem einheitlichem Schema. Jedoch können einige Gemeinsamkeiten und grundsätzliche Tendenzen festgehalten werden:
a) Alle Zistern haben für die obersten drei Chöre nach dem 3. Bund einen Ganztonschritt, der 4. Bund entspricht also dem 5. Bund der chromatischen Leiter; bei zwei Instrumenten fehlt dieser Halbbund ganz.
b) Der 6., 8. und 11. Bund (bei einigen Instrumenten zudem noch der 13., 15. und 17. Bund) sind nur für den obersten oder die beiden oberen Chöre ausgearbeitet. Zwischen die über die volle Griffbrettbreite reichenden Bünde sind also auch hier Halbbünde eingeschoben, so daß teildiatonische Folgen für die unteren Chöre entstehen.
Die beiden Zistern des Leipziger Museums (Inv.-Nr. 612 und 613) sowie ein weiteres Instrument aus dem Kunsthistorischen Museum Wien (Inv.-Nr. 58) weisen folgende Bundanordnung auf:
Bundanordnung der italienischen Zistern Leipzig Inv.-Nr. 612, 613 und Wien Inv.-Nr. 58  Bundanordnung der italienischen Zistern Leipzig Inv.-Nr. 612, 613 und Wien Inv.-Nr. 58
   Es sind wohl diese Zistern, die Michael Praetorius 1619 als "Alt Italianer" bzw. "Sechs Chörichte Chor Zitter" bezeichnet. Auf der Tafel XVI des "Theatrum Instrumentorum" ist das Instrument mit dem markanten Wirbelbrett, allerdings schon mit chromatischer Bundanordnung, abgebildet. Als Stimmung nennt Praetorius:  a  c'  h  g  d'  e'  (6.-1. Chor). Alternativ gibt er in der Stimmungstabelle (S. 28) für den 5. Chor  c  an.

(vgl. Giovanni Maria Lanfranco: Scintille di musica, Brescia 1533, p. 139. Italienische Tabulaturen für sechschörige Zister: Paolo Virchi: Il primo libro venice, 1574; Stimmung: e' d' g h F D; ein Stück für siebenchörige Zister (7. Saite: G); Vincenti: Secondo libro Venice, 1602; Stimmung: e' d' g h c' a. vgl. Grijp 1981, S. 64ff.)
Michael Praetorius: Syntagma musicum, Theatrum instrumentorum, Wolfenbüttel 1620, Taf. XVI, Nr. 6: "Sechs Chörichte Chor Zitter"; Gesamtlänge: 795; Korpuslänge: 340; Korpusbreite: 255; Griffbrettlänge: 340; Griffbrettbreite: 60; Mensur: 485 (Umrechnungseinheit = Fußmaß im Herzogtum Braunschweig: 1 Fuß = 284,2 mm, nach: Statistische Übersichtstabellen der Europäischen Staaten, Königsberg und Leipzig 1790)
Legt man die von Praetorius angegebene Stimmung der Bundanordnung der beiden Zistern zugrunde, ergäbe sich folgende Materialleiter:
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
e' f' f#' g'   a' b' h' c'' c#'' d'' d#'' e'' f'' f#'' g'' g#'' a'' b''
d' d#' e' f'   g' g#' a' b' h' c'' c#'' d'' d#'' e'' f'' f#'' g'' g#''
g g#' a b   c#   d'   e' f'   g'   a'   h'    
h c' c#' d' d#' e' f' f#' g' g#' a' b' h' c'' c#''        
c' c#' d' d#' e' f' f#' g' g#' a' b' h' c'' c#''          
a b h c' c#' d' d#' e' f' f#' g' g#' a' b'          
Intervall Mitteltönig nach Praetorius 1619
in Cent
Leipzig Nr. 612/613 (Mittelwert)
in Cent
e'-Saite h-Saite d'-Saite g-Saite
   a - cis 386 391,7   412,7 412,7
   b-d 386 392,1   399,1 399,1
   h-dis 428 412,7 [410,3]   390,6
   c-e 386 399,1 391,4   391,7
   cis-f 386   408,8   392,1
   d-fis 386   390,5 410,3 412,7
   dis-g 386   390,6 391,4 399,1
   e-gis 386 [410,3] 391,7 408,8  
   f-a 386 391,4 392,1 390,5  
   fis-b 428 408,8 412,7 390,6  
   g-h 386 390,5 399,1 391,7 410,3
   gis-c 428 390,5   392,1 391,4
Aus der Länge der Halbbünde auf der Diskantseite ist nicht genau ersichtlich, ob diese für 1. und 2. Chor oder nur für den 1. Chor vorgesehen wurden. Dennoch verfügt das Instrument über einen chromatischen Tonvorrat von g - b², wenn man zunächst außer acht läßt, daß die Temperierung diesen offensichtlich nicht anstrebt. Im einzelnen sind die Töne e', f', g' und a' je sechsmal, die Töne d'und h' je fünfmal, die Töne c', d#' f#', g#', c² und c#² je viermal, c#' dreimal und alle anderen Töne bis auf g, g#', a² und b² je zweimal vorhanden. Die Bundabstände lassen tendenziell auf eine mitteltönige Temperierung schließen.
Über die Gründe für die teildiatonischen Bundanordnungen herrschen verschiedene und keineswegs schlüssige Ansichten (Siehe Grijp 1981 und Schulze 1985, S. 44ff.). Die Wurzeln lassen sich zwar zweifellos bei der Citole, einem der spätmittelalterlichen Vorgänger des Instruments, wiederfinden. Versuche, sie aus Stimmungs- und Intonationsproblemen, aus dem Bestreben nach Orientierungserleichterung auf dem Griffbrett oder aus Applikaturen zu begründen, haben nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Am plausibelsten scheint die Erklärung der diatonischen Bundmuster aus dem Bestreben nach Grifferleichterungen (Schulze 1985, S. 54).Die Faktur der Zisternmusik des 16. Jahrhunderts und die verwendeten Tonarten verlangten zunächst nicht das Greifen bestimmter Bünde. Erst als die musikalische Struktur nach einer lückenlosen Chromatik verlangte, verschwanden zwangsläufig auch die Halbbünde. Nicht unterschätzt werden darf bei dem Phänomen, daß gerade im Musikinstrumentenbau die Beharrung im Tradierten mehr als in anderen sozialen Bereichen immer wieder zu beobachten ist.
Giaccomo Francesco Cipper (Tedesco): Zisternspieler, 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, 96 x 132,5 cm, Stockholm, Nationalmuseum, Inv.-Nr. NM 761 Giaccomo Francesco Cipper (Tedesco): Zisternspieler, 18. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, 96 x 132,5 cm, Stockholm, Nationalmuseum, Inv.-Nr. NM 761
Die Provenienz der beiden Zistern Inv.-Nr. 612 und 613 kann nicht anhand vorhandener Signaturen ermittelt werden. Der Brandstempel bei Inv.-Nr. 612 ist weitgehend unleserlich und läßt keine sichere Deutung zu. Ein wichtiges Indiz ist das für die Maggini-Schule in Brescia typische Ornament bei Inv.-Nr. 612 (vgl. die beiden Kontrabässe Inv.-Nr. 940 und 941).
Die Herkunft der beiden Zistern in der Leipziger Sammlung ist unbekannt. Über den Erwerb können keine eindeutigen Aussagen getroffen werden. Der im Katalog Kraus 1901 unter der Nr. 493 getroffene Vermerk: "Cistro a dodici corde. XVI secolo." könnte eines der beiden Instrumente meinen.
Inhalt  |  Zistern - Übersicht  |  Bibliographie  |  612  |  613
© STUDIA INSTRUMENTORUM MUSICAE 2000